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Dr. Dörthe Lison © 2019 Bundeswehr/Andreas Schindler
© 2019 Bundeswehr/Andreas Schindler
Körper und Seele ganzheitlich betrachten

Wenn das Selbstbild gestört wird

Oberstarzt Dr. Andreas Lison und Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison erläutern im Interview, wie psychische und seelische Beeinträchtigungen einander bedingen – und wie wichtig ein ganzheitlicher Ansatz für Behandlung und Rehabilitation ist.

Wenn bei der Bundeswehr Menschen schwere psychische oder körperliche Erkrankungen erleiden, zählt das Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr als zentrale Untersuchungs-, Beratungs- und Behandlungsstelle auf dem Gebiet der Sportmedizin, Prävention und Rehabilitation zu ihren Anlaufstellen. Oberstarzt Dr. Andreas Lison, Leiter des Zentrums, und Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison, Leiterin der interdisziplinären Rehabilitation, geben im Interview Einblicke.

Frau Oberfeldarzt Dr. Lison, Herr Oberstarzt Dr. Lison, bei psychischen Erkrankungen ist es ja oft so, dass Betroffene das selbst erst einmal gar nicht wahrhaben wollen oder als Schwäche wahrnehmen – obwohl sie dafür ja genauso wenig können wie für eine Krebserkrankung oder eine Allergie. Ist das bei Menschen, die eine Posttraumatische Belastungsstörung erleiden und in einem Kontext wie der Bundeswehr leben, in dem sie an sich selbst hohe Leistungsansprüche haben, noch einmal schwieriger?

Oberstarzt Dr. Andreas Lison: Ja, das gilt aber ganz unabhängig von einer konkreten Diagnose oder Erkrankung. Für Frauen und Männer bei der Bundeswehr ist Leistungsfähigkeit häufig ein wichtiger Teil ihres Selbstbilds. Wir sehen das nicht nur bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, sondern auch bei denen, die beispielsweise plötzlich schwer körperlich erkranken und dann eine starke Bewegungseinschränkung erleiden. Es kommt dann zu Störungen im Selbstbild. Sich einzugestehen, dass etwas nicht mehr geht, führt zu einer großen Stressbelastung.

Neben der generell notwendigen weiteren Enttabuisierung im Umgang mit entsprechenden Beeinträchtigungen – welche Unterstützungsangebote können hier helfen?

Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison: Gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen ist es wichtig, niederschwellige Angebote zu unterbreiten, die wertschätzend sind und auf die Menschen einfach zugreifen können. Da ist in der Bundeswehr in den letzten Jahren schon sehr viel passiert. Im nächsten Schritt ist es aber notwendig, nicht strikt zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen zu trennen. Denn Menschen müssen ganzheitlich betrachtet werden. Eine körperliche Beeinträchtigung zieht meist seelische Probleme mit sich, umgekehrt können psychische Erkrankungen zu sehr starken körperlichen Symptomen führen. Deshalb ist es wichtig, diagnose- und ursachenunabhängig vorzugehen und Menschen mit Beeinträchtigung einen ganzheitlichen Ansatz von Rehabilitation zu bieten, der alle Aspekte berücksichtigt.

Dr. Dörthe Lison © 2019 Bundeswehr/Andreas Schindler
© 2019 Bundeswehr/Andreas Schindler

Das heißt, weil sowohl Körper als auch Geist betroffen sein können, sollte auch die Behandlung und Rehabilitation beides in den Blick nehmen.

Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison: Bleiben wir bei PTBS: Es handelt sich um eine psychiatrische Erkrankung, die mit sehr viel Stress und Anspannung einhergeht. Hier ist also das psychische Wohlbefinden beeinträchtigt. Das heißt, die Menschen können nicht ihre vollen kognitiven Fähigkeiten abrufen. Sie sind beeinträchtigt, in ihrer Gemeinschaft zu wirken. Sie sind beeinträchtigt, ihre volle Berufs- oder Dienstfähigkeit zu entfalten. Dieser ganze Stress wirkt sich aber natürlich auf den gesamten Körper aus. Sie haben ein deutlich erhöhtes Risiko, um etwa 30 %, für weitere Stoffwechselerkrankungen, Diabetes mellitus, Bluthochdruck oder ähnliches. Da Rehabilitation negative Folgen der Gesundheitsstörung minimieren und managen möchte, ist es bei diesen Patientinnen und Patienten notwendig, frühzeitig auch allgemeinmedizinisch-internistisch zu intervenieren. Als einer der Bausteine, die insgesamt zu einer Rehabilitation gehören.

Gerade bei einer PTBS ist es eine Herausforderung, Trigger zu erkennen und damit umgehen zu können. Wie lässt sich hier Betroffenen helfen?

Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison: Wenn Erlebnisse aus heftigen Situationen nicht wie üblich verarbeitet und als Erinnerung abgelegt werden können, bleiben die Eindrücke in einzelnen Fragmenten sozusagen liegen. Aktuelle Sinneseindrücke, aber auch Körperreaktionen oder eine vage Atmosphäre können ausreichen, um die alten Erlebnisse ganz oder teilweise unkontrolliert im Hier und Jetzt lebendig werden zu lassen. Dies gilt es in der sog. Psychoedukation zu erklären und Möglichkeiten an die Hand zu geben, die auftretenden körperlichen und emotionalen Reaktionen zu begrenzen. Das nennt man Skills-Training. Gleichzeitig werden die individuellen Ressourcen gestärkt. Diese Stabilisierung ist ein unverzichtbarer Baustein in der Psychotraumatherapie und bringt neben der Verstehbarkeit wieder Kontrolle zurück über die eigenen angstmachenden Symptome. Aber auch Menschen mit anderen psychischen Beeinträchtigungen – gleich welcher Ursache – profitieren von Psychoedukation, Ressourcen- und Skills-Training. Allerdings muss in einem weiteren Schritt an der Ursache gearbeitet werden, z.B. mit traumaspezifischen Techniken.

Gehört dazu auch, ihnen zu helfen, ihrem Umfeld angemessene Reaktionen zu vermitteln?

Oberstarzt Dr. Lison: Dazu muss man generell sagen: Unabhängig von der konkreten Diagnose erfordert es von Menschen mit einer Beeinträchtigung, egal welcher Art, sehr, sehr viel Mut, sich selbst oder Situationen zu erklären – ohne ihrer Umgebung das Gefühl zu vermitteln, sie wollten sich zum Opfer machen. Dazu gehört zudem ein weit fortgeschrittener Krankheitsbewältigungsprozess. Und das ist eine der zentralen Aufgaben von Rehabilitation. Maßnahmen im Gesamtsystem der Bundeswehr können Betroffenen dabei eine wichtige Hilfe sein. Denn wir können Rituale, Peergroup-Erlebnisse, eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Symbole nutzen, die den Menschen, die davon betroffen sind, Sicherheit geben. Menschen, die sich in Sicherheit fühlen, sind viel, viel mehr bereit, diese Schwelle zu überschreiten.

© 2022 Bundeswehr/Tom Twardy
© 2022 Bundeswehr/Tom Twardy

Da das Umfeld so eine wichtige Rolle spielt: Wie wichtig ist es, bei der Behandlung die Familie, die Kameradinnen und Kameraden und das dienstliche Umfeld mit einzubeziehen?

Oberstarzt Dr. Lison: Wenn man den Rehabilitationsgedanken zu Ende führt, dann stellt sich nicht die Frage, wie wichtig das ist, sondern, wie wir das endlich wirklich gut schaffen. Als soziale Wesen sind wir gerade in schweren Lebenskrisen auf gute Bindungen angewiesen. Und wir sehen, dass die Angehörigen, die im Rehabilitationsprozess mitwirken, oft eine ganz erhebliche Stütze sind. Damit das wirklich gut gelingen kann, ist es erforderlich, dass sie eng eingebunden sind. Dazu gehört es, sie dabei zu unterstützen, die neue Situation zu verstehen – und, wie sie mitwirken können. Das ist aber nur eine Seite der Medaille.

Und die andere?

Oberstarzt Dr. Lison: Wie die Betroffenen auch sind die Angehörigen in einer neuen Situation, auf die sie nicht vorbereitet sind. „When a single event changes everything“ – das betrifft sie auch. Wenn sie ihre Partnerin oder ihren Partner im Verhalten nicht mehr erkennen, oder wenn sich ihre eigene Rolle völlig ändert, ist das sehr belastend. Gleichzeitig wirkt das auf die Betroffenen zurück, die dies spüren, und kann insgesamt deutliche Partnerschaftsbelastungen zur Folge haben. Besonders betonen möchte ich aber auch die Kinder von Betroffenen. Wenn sie eine plötzliche, für sie nicht verständliche und von ihnen kaum beeinflussbare neue Situation erleben, in denen sich die Rolle eines Elternteils verändert, wirken extreme Stressoren auf sie ein. Es gibt wissenschaftliche Hinweise dafür, dass das für sie das Risiko körperlicher Erkrankungen deutlich erhöhen kann.

Damit werden dann auch spezielle Hilfsangebote notwendig, die sie in den Blick nehmen.

Oberfeldarzt Dr. Dörthe Lison: Es gibt schon eine Vielzahl von Unterstützungsmöglichkeiten. Zum einen innerhalb der Bundeswehr, hier ist der Sozialdienst sehr aktiv. Die Militärseelsorge ist ein wertvoller Partner. Und viele außerhalb der Bundeswehr gegründete Initiativen wie das Netzwerk der Hilfe engagieren sich stark. Wir möchten aber daran arbeiten, diese Unterstützungsmöglichkeiten nicht nur insgesamt bekannter zu machen, sondern auch besser aufeinander abzustimmen. Auch international wollen wir hier den Austausch verstärken.

Das geschieht auch im Rahmen der Warrior Care Conference, richtig?

Oberstarzt Dr. Lison: Ja, dort werden wir einen Workshop mit dem Titel „Burdened Helpers: The Role of Partnership and Childhood in the Rehabilitation Process” abhalten. Unser Ziel ist eine gemeinsame Deklaration. Mit ihr hoffen wir, die Bewusstseinsbildung und Haltung zu diesem ganzheitlichen Ansatz voranzubringen, damit sich im nächsten Schritt auch Strukturen und Prozesse ändern.